"Noch weiter gehen diese Analogien bei anderen, noch weit höher differenzierten
Leistungen der Wahrnehmung, die den Konstanzfunktionen aufs engste verwandt sind und sie
z. T. in sich schließen. Es sind dies jene höchsten Leistungen der Gestaltwahrnehmung, die es
uns ermöglichen, eine im komplexen Naturgeschehen obwaltende Gesetzlichkeit unmittelbar
zu erfassen, d. h. aus dem Hintergrund der zufälligen, nichtssagenden Informationen
herauszugliedern, die uns von unseren Sinnesorganen und niedrigeren
Wahrnehmungsleistungen gleichzeitig übermittelt werden. Wie ich noch zu zeigen versuchen
werde, vollbringt der Mechanismus der Gestaltwahrnehmung hierbei Leistungen, die nicht
nur „unbewußten Schlüssen”, sondern den klassischen drei Schritten induktiver
Naturforschung, nämlich dem Sammeln einer Induktionsbasis, ihrem systematischen Ordnen
und der Abstraktion einer Gesetzlichkeit, wahrhaft verblüffend analog sind.
So offensichtlich dieser Vorgang den Charakter des Physiologischen hat, ja sogar
manchen Leistungen von Rechenmaschinen gleicht, ist er doch mit anderen der
Selbstbeobachtung unzugänglichen und rational nicht leicht nachvollziehbaren Leistungen des
Zentralnervensystems unter den recht mystischen Begriff der „Intuition” subsumiert worden.
Dies ist wohl der Grund, weshalb viele ernst zu nehmenden Naturforscher geneigt sind,
denjenigen mit Mißtrauen zu betrachten, der offen eingesteht, daß er sich in seiner
wissenschaftlichen Arbeit von der Gestaltwahrnehmung beeinflussen oder gar leiten läßt."
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"Wichtiger als für jeden anderen
Naturwissenschaftler ist daher für den Verhaltensphysiologen die Frage, ob, und wie weit, er
die Meldungen der eigenen Gestaltwahrnehmung in jenem Sinne als wahr hinnehmen darf,
der sich ethymologisch schon im Wort Wahrnehmung ausdrückt."
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"Eine wirklich komplexe Gestalt, etwa
eine Physiognomie, müssen wir mehrmals gesehen, ein polyphones Musikstück mehrmals
gehört haben, bis die Gestalt, als die wir diese Konfiguration wahrnehmen, ihre endgültige
Qualität angenommen hat. Ja, man könnte vielleicht etwas überspitzt sagen, daß solche
komplexesten Gestalten überhaupt nie eine wirklich endgültige Qualität erreichen, sondern
sich bei jeder Wiederholung der Wahrnehmung, bei jeder weiteren kleinen Zunahme des
Bekanntheits-Grades, immer noch ein ganz klein wenig ändern, daß sich immer noch neue
kleine Regelhaftigkeiten vom Hintergrund des Akzidentellen abheben und ein immer tieferes
Eindringen in die Struktur des Ganzen gestatten."
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>Die Beteiligung von Lernen und Gedächtnis am Zustandekommen der komplexen
Wahrnehmung macht nämlich das „Abstrahieren” der Gestalt aus dem Hintergrund
chaotischer Reizdaten selbst dann noch möglich, wenn sie von dem „Lärm” der letzteren so
stark übertönt wird, daß in einer einmaligen Darbietung nicht genügend Information betreffs
der Gestaltgesetzlichkeit enthalten ist. In einem Vorgang des Sammelns von Informationen,
der sich über Jahre, ja über Jahrzehnte erstrecken kann, schafft die Gestaltwahrnehmung im
Verein mit dem — in dieser speziellen Leistung ganz rätselhaft guten — Gedächtnis eine so
breite „Induktionsbasis”, daß auf deren Grundlage die gesuchte Regelmäßigkeit „statistisch
gesichert” erscheint. Die Anführungszeichen sollen hier wirklich Analogie der ratiomorphen
zur rationalen Leistung ausdrücken. Als ich einst auf einem Kongreß ausführlich über diese
Vorgänge sprach und beschrieb, wie man bei der Beobachtung komplexer tierischer
Verhaltensweisen buchstäblich tausende von Malen denselben Vorgang sehen kann, ohne
seine Gesetzmäßigkeit zu bemerken, bis urplötzlich, bei einem weiteren Male, ihre Gestalt
sich mit so überzeugender Klarheit vom Hintergrunde des Zufälligen abhebt, daß man sich
vergeblich fragt, wieso man sie nicht schon längst gesehen habe, faßte Grey - Walter
meine etwas lange Rede in einem Satz zusammen: „Redundancy of information compensates
noisiness of channel” — Wiederholung der Information kompensiert den überlagernden
„Lärm”.<
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>Wenn die in den Sinnesdaten enthaltene Information sich gleich gut zur Stützung von
zwei — manchmal entgegengesetzten — Auslegungen verwenden läßt, so meldet uns unsere
Wahrnehmung nicht diese Zweideutigkeit, sondern „entschließt” sich für eine der Deutungen
und teilt uns diese als „wahr” mit. Die Zähigkeit, mit der sie an dieser „willkürlichen” Wahl
festhält, wechselt stark, plötzliches Umschlagen kommt vor und kann vom Geübten
absichtlich gefördert werden, wie im allbekannten Fall der Drehrichtung von Schattenbildern.<
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"Zur Gestaltwahrnehmung besonders begabte Menschen neigen
dazu, jene zu verachten, die das, was sie selbst ganz selbstverständlich wahrnehmen, nicht zu
sehen vermögen und seine rationale Verifikation — mit vollem Rechte — fordern. Rational
und analytisch begabte Denker, die ja selten gleichzeitig hervorragende Fähigkeiten zur
Wahrnehmung komplexer Gestalten besitzen, halten den in dieser Hinsicht begabten für einen
Schwätzer, weil sie den Weg, auf dem er zu seinen Ergebnissen gelangte, nicht
nachzuvollziehen vermögen, und dazu noch für kritiklos, weil er die Verifikation des
Wahrgenommenen nicht für wichtig nimmt."
"Wenn auch diese Schwierigkeit des gegenseitigen Verständnisses mit einiger Einsicht in die Natur der Gestaltwahrnehmung leicht überwindbar ist, bleibt doch die individuelle Verschiedenheit der Begabung zum Gestaltsehen ein Hemmschuh seiner wissenschaftlichen Verwertbarkeit, schon deshalb, weil es sich nicht lehren, ja kaum durch Lernen und Übung verbessern läßt."
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"Meiner Meinung kommt jede Entdeckung einer einigermaßen komplexen Regelhaftigkeit
grundsätzlich durch die Funktion der Gestaltwahrnehmung zustande. Dies gilt in allen
Naturwissenschaften, aber auch in der Mathematik, und wird von den Mathematikern
bereitwilligst bestätigt. Obwohl, wie schon dargelegt, ratiomorphe und rationale
Erkenntnisleistungen oft hochgradig analoge Funktionen haben und daher in vielen Fällen
imstande sind, einander zu vertreten, halte ich die Gestaltwahrnehmung in dieser einen
Leistung für völlig unersetzlich. Gerade deshalb aber erscheint es mir von größter
Wichtigkeit, daß jeder Forscher die ... Funktionseigenschaften der eigenen Gestaltwahrnehmung genau genug kennt, um ihre
Schwächen durch rationale Leistungen zu kompensieren und ihre Stärke voll auszunützen."
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>Das erste Anzeichen, daß die Gestaltwahrnehmung „Wind” von irgendeiner in den
just beobachteten Vorgängen obwaltenden Gesetzlichkeit bekommen hat, besteht darin, daß
sie, gleichsam wie ein guter Jagdhund, in der betreffenden Richtung „an der Leine zu ziehen”
beginnt. Sie bewerkstelligt das mittels der ihr eigenen Fähigkeit, gewissen Reizkombinationen
die Qualität des Anziehenden und Interessanten zu verleihen. Diese zunächst völlig diffuse
Gesamtqualität kann, wie gesagt, jahrelang als ungegliedertes Erleben bestehen bleiben, wirkt
aber gleichzeitig so stark auf das gesamte Gefühlsleben, daß man von dem betreffenden
Beobachtungsgegenstand einfach nicht los kommt. So wird zwangsläufig mehr und mehr
Information in den Verrechnungsapparat der komplexen Gestaltwahrnehmung hineingepreßt,
was man ordentlich zu fühlen meint, und was dann Schritt für Schritt zu einer Wahrnehmung
einzelner relevanter Glieder der gesuchten Gestalt führt. Es ist, wenigstens für mich, in diesen
Fällen komplexester Wahrnehmungsleistung nicht richtig, daß die Gestalt vor ihren Teilen gegeben ist. Man weiß vielmehr zunächst,
welche Teilkomplexe es sind, aus denen sich die Ganzheit aufbauen wird, nicht aber, in
welcher Konfiguration sie sich zu ihrer Gestalt zusammenfügen werden. Sehr gut kommt dies
in der Schilderung zum Ausdruck, die Max Wertheimer von den
Erkenntnisschritten gibt, die Einstein zur Formulierung der Relativitätstheorie führten.
Gerade dies ist nun die Phase, in der man nicht versuchen soll, durch bewußtes
Experimentieren mit den als wesentlich erkannten Gliedern die Synthese der Gestalt zu
erzwingen. Jeder zur Selbstbeobachtung Neigende weiß z. B., daß man beim Lösen eines
Silbenrätsels nie versuchen darf, die gesuchte Reihenfolge durch Permutation zu finden. Man
rennt sich dabei sofort in einer oder mehreren Silbenkombinationen fest und kommt nicht
mehr davon los. Man muß vielmehr alle Glieder gleicherweise, gewissermaßen mit
schwebendem Akzent, im Auge behalten und sich dann in einer ganz bestimmten, schwer
beschreibbaren Weise anstrengen. Die angedeutete „Yoghi-Kunst” besteht nur darin, in dieser
Weise bewußt Druck hinter die Gestaltwahrnehmung zu setzen, ohne in ein bewußtes
Nachdenken abzugleiten, das die Lösungsfindung mit Sicherheit verhindert. Wer davon
überzeugt ist, daß alle seelischen Vorgänge ihre neurophysiologische Seite haben, sollte sich
eigentlich nicht darüber wundern, daß die Gestaltwahrnehmung zum Vollbringen ihrer
höchsten Leistungen der Energiezufuhr bedarf.
Der nun folgende, entscheidende Schritt ist das plötzliche „Herausspringen” der
Lösung. Es kommt meist ganz unerwartet und fast nie, während man sich mit dem Problem
beschäftigt. Es ist ganz buchstäblich so, als ob ein Bote, den man mit einem bestimmten
Erkundungsauftrag ausgeschickt hat, sich mit der Nachricht des Erfolges zurückmeldet. C.
F. von Weizsäcker hat dies einst auf einem zwanglosen Treffen kybernetisch
interessierter Biologen sehr anschaulich geschildert, besonders aber auch, wie man im
entscheidenden Augenblick zunächst mit voller Sicherheit nur weiß, daß man die Lösung hat,
aber noch nicht, wie sie aussieht. Das Erlebnis ist dabei ganz so, als überreichte einem jener
Bote die erwartete Erfolgsmeldung in einem verschlossenen Brief.
Sehr bemerkenswerte Erlebnisvorgänge spielen sich ab, wenn die
Gestaltwahrnehmung zur Bildung von zwei miteinander unvereinbaren „Hypothesen” gelangt
ist, was gar nicht so selten vorkommt. Als ich, wie schon mitgeteilt, jenen Gans-SchwanMischling
unerwartet sah, und abwechselnd als Gans und als Schwan wahrnahm, hatte ich
dieses Gefühl mit einer Intensität, die an Übelkeit grenzte. Dieselbe Erlebnisqualität tritt aber nicht nur dann auf, wenn, wie in jenem Fall, zwei gleich deutliche
Gestalten einander glatt widersprechen, sondern auch schon dann, wenn eine geringere
Minorität gespeicherter Informationen sich einer „Hypothese” nicht fügt, die imstande ist,
eine erdrückende Mehrheit von Daten mit bestechender Eleganz einzuordnen. Es ist einem
dann „nicht ganz wohl” bei dieser Interpretation und es entsteht ein Gefühl des Zweifels,
welches das ratiomorphe Analogon zur rationalen Leistung des Zweifelns ist. Auch hierfür
finden sich in Wertheimers Bericht über sein Gespräch mit Einstein sehr
überzeugende Beispiele. Zur „Yoghi-Kunst” des kritischen Gebrauchs der
Gestaltwahrnehmung gehört in allererster Linie, was ich hier zuletzt erwähne: Man muß es
lernen, sein Ohr aufs Äußerste für jene Warnung zu schärfen, die einem der
Wahrnehmungsmechanismus in Form des eben beschriebenen Unlustgefühles erteilt.
Verführerisch elegante Meldungen, die er uns über das Bestehen komplexer Gesetzlichkeiten
erstattet, können unter Umständen völlig falsch sein. Wenn er uns aber durch jenes
spezifische Gefühl gegen seine eigenen Mitteilungen mißtrauisch macht, ist immer etwas faul
an ihnen.<