Sonntag, 28. Januar 2018

Phantasie:

"das Kind kann sich noch in die Rolle des Königs versetzen, wie es ja auch dazu bereit ist, den Frosch in einen Prinzen zu verwandeln und mit dem Bächlein Zwiesprache zu halten. Uns Erwachsene erfüllt die Tatsache des Verlustes dieser Welt mit einer tiefen Wehmut, die der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies ausgestaltet hat; von uns her gesehen war sie >zu schön, um wahr zu sein <. Der Wunsch, in sie zurückzukehren, meldet sich aber immer dann an, wenn die wahre Welt zu ernsthaft wird, um schön zu sein.
Das idealisierte Selbstbild der Erwachsenen unterschätzt jedoch die Bedeutung, die der Phantasie in seiner Welt zukommt. Auch in ihr kann man sich über die Grenzen der Realität hinwegsetzen und Situationen anschaulich vorwegnehmen, die sich vielleicht niemals einstellen werden. Das gilt für die Belange des Lebens, etwa für die Vorbereitung auf eine wichtige Begegnung im Beruf, nicht weniger als für die theoretischen des Wissenschaftlers, der sehr oft aus einer angenommenen Ordnung der Dinge (>Hypothese<) Konsequenzen deduziert, die dann unter Umständen seinen empirischen Nachweismethoden zugänglich sind. ...
Wer als Bastler, Ingenieur, Politiker oder Forscher an der Welt der Gegebenheiten herumprobiert, vertraut sich dabei meistens der Führung durch Phantasien an. Trotzdem gesteht sich das aus puritanischer Askese Calvins hervorgegangene Leitbild des Menschen in der technischen Zivilisation die positive Bedeutung der Phantasie nur ungern ein. Das Resultat dieser gewollten Ernüchterung scheint freilich ein ganz unmäßiger Appetit auf qualitativ recht dürftige Phantasien zu sein, die sich zudem noch oft als >realistisch< ausgeben müssen (>Kitsch< in Literatur und Film). Dagegen gehört die veredelnde Ausgestaltung der Phantasiewelt einer Gemeinschaft zu den vornehmsten Aufgaben ihrer Künstler (z.B. Dichter)."

Psychologie - Fischer Lexikon, 1957

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