Dienstag, 20. November 2018

Gestaltwahrnehmung:


"Noch weiter gehen diese Analogien bei anderen, noch weit höher differenzierten Leistungen der Wahrnehmung, die den Konstanzfunktionen aufs engste verwandt sind und sie z. T. in sich schließen. Es sind dies jene höchsten Leistungen der Gestaltwahrnehmung, die es uns ermöglichen, eine im komplexen Naturgeschehen obwaltende Gesetzlichkeit unmittelbar zu erfassen, d. h. aus dem Hintergrund der zufälligen, nichtssagenden Informationen herauszugliedern, die uns von unseren Sinnesorganen und niedrigeren Wahrnehmungsleistungen gleichzeitig übermittelt werden. Wie ich noch zu zeigen versuchen werde, vollbringt der Mechanismus der Gestaltwahrnehmung hierbei Leistungen, die nicht nur „unbewußten Schlüssen”, sondern den klassischen drei Schritten induktiver Naturforschung, nämlich dem Sammeln einer Induktionsbasis, ihrem systematischen Ordnen und der Abstraktion einer Gesetzlichkeit, wahrhaft verblüffend analog sind. 

So offensichtlich dieser Vorgang den Charakter des Physiologischen hat, ja sogar manchen Leistungen von Rechenmaschinen gleicht, ist er doch mit anderen der Selbstbeobachtung unzugänglichen und rational nicht leicht nachvollziehbaren Leistungen des Zentralnervensystems unter den recht mystischen Begriff der „Intuition” subsumiert worden. Dies ist wohl der Grund, weshalb viele ernst zu nehmenden Naturforscher geneigt sind, denjenigen mit Mißtrauen zu betrachten, der offen eingesteht, daß er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit von der Gestaltwahrnehmung beeinflussen oder gar leiten läßt."

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"Wichtiger als für jeden anderen Naturwissenschaftler ist daher für den Verhaltensphysiologen die Frage, ob, und wie weit, er die Meldungen der eigenen Gestaltwahrnehmung in jenem Sinne als wahr hinnehmen darf, der sich ethymologisch schon im Wort Wahrnehmung ausdrückt."

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"Eine wirklich komplexe Gestalt, etwa eine Physiognomie, müssen wir mehrmals gesehen, ein polyphones Musikstück mehrmals gehört haben, bis die Gestalt, als die wir diese Konfiguration wahrnehmen, ihre endgültige Qualität angenommen hat. Ja, man könnte vielleicht etwas überspitzt sagen, daß solche komplexesten Gestalten überhaupt nie eine wirklich endgültige Qualität erreichen, sondern sich bei jeder Wiederholung der Wahrnehmung, bei jeder weiteren kleinen Zunahme des Bekanntheits-Grades, immer noch ein ganz klein wenig ändern, daß sich immer noch neue kleine Regelhaftigkeiten vom Hintergrund des Akzidentellen abheben und ein immer tieferes Eindringen in die Struktur des Ganzen gestatten."

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>Die Beteiligung von Lernen und Gedächtnis am Zustandekommen der komplexen Wahrnehmung macht nämlich das „Abstrahieren” der Gestalt aus dem Hintergrund chaotischer Reizdaten selbst dann noch möglich, wenn sie von dem „Lärm” der letzteren so stark übertönt wird, daß in einer einmaligen Darbietung nicht genügend Information betreffs der Gestaltgesetzlichkeit enthalten ist. In einem Vorgang des Sammelns von Informationen, der sich über Jahre, ja über Jahrzehnte erstrecken kann, schafft die Gestaltwahrnehmung im Verein mit dem — in dieser speziellen Leistung ganz rätselhaft guten — Gedächtnis eine so breite „Induktionsbasis”, daß auf deren Grundlage die gesuchte Regelmäßigkeit „statistisch gesichert” erscheint. Die Anführungszeichen sollen hier wirklich Analogie der ratiomorphen zur rationalen Leistung ausdrücken. Als ich einst auf einem Kongreß ausführlich über diese Vorgänge sprach und beschrieb, wie man bei der Beobachtung komplexer tierischer Verhaltensweisen buchstäblich tausende von Malen denselben Vorgang sehen kann, ohne seine Gesetzmäßigkeit zu bemerken, bis urplötzlich, bei einem weiteren Male, ihre Gestalt sich mit so überzeugender Klarheit vom Hintergrunde des Zufälligen abhebt, daß man sich vergeblich fragt, wieso man sie nicht schon längst gesehen habe, faßte Grey - Walter meine etwas lange Rede in einem Satz zusammen: „Redundancy of information compensates noisiness of channel” — Wiederholung der Information kompensiert den überlagernden „Lärm”.<

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>Wenn die in den Sinnesdaten enthaltene Information sich gleich gut zur Stützung von zwei — manchmal entgegengesetzten — Auslegungen verwenden läßt, so meldet uns unsere Wahrnehmung nicht diese Zweideutigkeit, sondern „entschließt” sich für eine der Deutungen und teilt uns diese als „wahr” mit. Die Zähigkeit, mit der sie an dieser „willkürlichen” Wahl festhält, wechselt stark, plötzliches Umschlagen kommt vor und kann vom Geübten absichtlich gefördert werden, wie im allbekannten Fall der Drehrichtung von Schattenbildern.<

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"Zur Gestaltwahrnehmung besonders begabte Menschen neigen dazu, jene zu verachten, die das, was sie selbst ganz selbstverständlich wahrnehmen, nicht zu sehen vermögen und seine rationale Verifikation — mit vollem Rechte — fordern. Rational und analytisch begabte Denker, die ja selten gleichzeitig hervorragende Fähigkeiten zur Wahrnehmung komplexer Gestalten besitzen, halten den in dieser Hinsicht begabten für einen Schwätzer, weil sie den Weg, auf dem er zu seinen Ergebnissen gelangte, nicht nachzuvollziehen vermögen, und dazu noch für kritiklos, weil er die Verifikation des Wahrgenommenen nicht für wichtig nimmt."


"Wenn auch diese Schwierigkeit des gegenseitigen Verständnisses mit einiger Einsicht in die Natur der Gestaltwahrnehmung leicht überwindbar ist, bleibt doch die individuelle Verschiedenheit der Begabung zum Gestaltsehen ein Hemmschuh seiner wissenschaftlichen Verwertbarkeit, schon deshalb, weil es sich nicht lehren, ja kaum durch Lernen und Übung verbessern läßt."

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"Meiner Meinung kommt jede Entdeckung einer einigermaßen komplexen Regelhaftigkeit grundsätzlich durch die Funktion der Gestaltwahrnehmung zustande. Dies gilt in allen Naturwissenschaften, aber auch in der Mathematik, und wird von den Mathematikern bereitwilligst bestätigt. Obwohl, wie schon dargelegt, ratiomorphe und rationale Erkenntnisleistungen oft hochgradig analoge Funktionen haben und daher in vielen Fällen imstande sind, einander zu vertreten, halte ich die Gestaltwahrnehmung in dieser einen Leistung für völlig unersetzlich. Gerade deshalb aber erscheint es mir von größter Wichtigkeit, daß jeder Forscher die ... Funktionseigenschaften der eigenen Gestaltwahrnehmung genau genug kennt, um ihre Schwächen durch rationale Leistungen zu kompensieren und ihre Stärke voll auszunützen."

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>Das erste Anzeichen, daß die Gestaltwahrnehmung „Wind” von irgendeiner in den just beobachteten Vorgängen obwaltenden Gesetzlichkeit bekommen hat, besteht darin, daß sie, gleichsam wie ein guter Jagdhund, in der betreffenden Richtung „an der Leine zu ziehen” beginnt. Sie bewerkstelligt das mittels der ihr eigenen Fähigkeit, gewissen Reizkombinationen die Qualität des Anziehenden und Interessanten zu verleihen. Diese zunächst völlig diffuse Gesamtqualität kann, wie gesagt, jahrelang als ungegliedertes Erleben bestehen bleiben, wirkt aber gleichzeitig so stark auf das gesamte Gefühlsleben, daß man von dem betreffenden Beobachtungsgegenstand einfach nicht los kommt. So wird zwangsläufig mehr und mehr Information in den Verrechnungsapparat der komplexen Gestaltwahrnehmung hineingepreßt, was man ordentlich zu fühlen meint, und was dann Schritt für Schritt zu einer Wahrnehmung einzelner relevanter Glieder der gesuchten Gestalt führt. Es ist, wenigstens für mich, in diesen Fällen komplexester Wahrnehmungsleistung nicht richtig, daß die Gestalt vor ihren Teilen gegeben ist. Man weiß vielmehr zunächst, welche Teilkomplexe es sind, aus denen sich die Ganzheit aufbauen wird, nicht aber, in welcher Konfiguration sie sich zu ihrer Gestalt zusammenfügen werden. Sehr gut kommt dies in der Schilderung zum Ausdruck, die Max Wertheimer von den Erkenntnisschritten gibt, die Einstein zur Formulierung der Relativitätstheorie führten.
Gerade dies ist nun die Phase, in der man nicht versuchen soll, durch bewußtes Experimentieren mit den als wesentlich erkannten Gliedern die Synthese der Gestalt zu erzwingen. Jeder zur Selbstbeobachtung Neigende weiß z. B., daß man beim Lösen eines Silbenrätsels nie versuchen darf, die gesuchte Reihenfolge durch Permutation zu finden. Man rennt sich dabei sofort in einer oder mehreren Silbenkombinationen fest und kommt nicht mehr davon los. Man muß vielmehr alle Glieder gleicherweise, gewissermaßen mit schwebendem Akzent, im Auge behalten und sich dann in einer ganz bestimmten, schwer beschreibbaren Weise anstrengen. Die angedeutete „Yoghi-Kunst” besteht nur darin, in dieser Weise bewußt Druck hinter die Gestaltwahrnehmung zu setzen, ohne in ein bewußtes Nachdenken abzugleiten, das die Lösungsfindung mit Sicherheit verhindert. Wer davon überzeugt ist, daß alle seelischen Vorgänge ihre neurophysiologische Seite haben, sollte sich eigentlich nicht darüber wundern, daß die Gestaltwahrnehmung zum Vollbringen ihrer höchsten Leistungen der Energiezufuhr bedarf.
Der nun folgende, entscheidende Schritt ist das plötzliche „Herausspringen” der Lösung. Es kommt meist ganz unerwartet und fast nie, während man sich mit dem Problem beschäftigt. Es ist ganz buchstäblich so, als ob ein Bote, den man mit einem bestimmten Erkundungsauftrag ausgeschickt hat, sich mit der Nachricht des Erfolges zurückmeldet. C. F. von Weizsäcker hat dies einst auf einem zwanglosen Treffen kybernetisch interessierter Biologen sehr anschaulich geschildert, besonders aber auch, wie man im entscheidenden Augenblick zunächst mit voller Sicherheit nur weiß, daß man die Lösung hat, aber noch nicht, wie sie aussieht. Das Erlebnis ist dabei ganz so, als überreichte einem jener Bote die erwartete Erfolgsmeldung in einem verschlossenen Brief.
Sehr bemerkenswerte Erlebnisvorgänge spielen sich ab, wenn die Gestaltwahrnehmung zur Bildung von zwei miteinander unvereinbaren „Hypothesen” gelangt ist, was gar nicht so selten vorkommt. Als ich, wie schon mitgeteilt, jenen Gans-SchwanMischling unerwartet sah, und abwechselnd als Gans und als Schwan wahrnahm, hatte ich dieses Gefühl mit einer Intensität, die an Übelkeit grenzte. Dieselbe Erlebnisqualität tritt aber nicht nur dann auf, wenn, wie in jenem Fall, zwei gleich deutliche Gestalten einander glatt widersprechen, sondern auch schon dann, wenn eine geringere Minorität gespeicherter Informationen sich einer „Hypothese” nicht fügt, die imstande ist, eine erdrückende Mehrheit von Daten mit bestechender Eleganz einzuordnen. Es ist einem dann „nicht ganz wohl” bei dieser Interpretation und es entsteht ein Gefühl des Zweifels, welches das ratiomorphe Analogon zur rationalen Leistung des Zweifelns ist. Auch hierfür finden sich in Wertheimers Bericht über sein Gespräch mit Einstein sehr überzeugende Beispiele. Zur „Yoghi-Kunst” des kritischen Gebrauchs der Gestaltwahrnehmung gehört in allererster Linie, was ich hier zuletzt erwähne: Man muß es lernen, sein Ohr aufs Äußerste für jene Warnung zu schärfen, die einem der Wahrnehmungsmechanismus in Form des eben beschriebenen Unlustgefühles erteilt. Verführerisch elegante Meldungen, die er uns über das Bestehen komplexer Gesetzlichkeiten erstattet, können unter Umständen völlig falsch sein. Wenn er uns aber durch jenes spezifische Gefühl gegen seine eigenen Mitteilungen mißtrauisch macht, ist immer etwas faul an ihnen.<

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