Dienstag, 5. Juni 2018

Striatalisierung

Ingo Schymanski:

"Die Verlagerung der Erregung weg vom Nucleus accumbens hin zum Striatum erscheint mir für bislang kaum verstandene Syndrome eine derart wichtige Rolle zu spielen, dass ich sie mit einem eigenen Namen bedacht habe: Striatalisierung. ... Wenn ein Kind keine zuverlässige Bindung erfährt, kaum Abläufe zur sicheren Routine werden und es Situationen ständig neu interpretieren muss, lieg es nur allzu nahe, dass der Prozess der "Striatalisierung" hierbei gestört wird."

"Wird der Prozess der "Striatalisierung" gestört, würde dem Erkrankten keine neue Erfahrung jemals zur Routine gerinnen. Jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jeder Augenblick bliebe mit Bedeutung aufgeladen; die Welt wäre voller Wunder, jede Wahrnehmung ein Zauber, den sich der Betroffene kaum erklären kann. Er rettet sich, indem er künstliche Zusammenhänge schafft, Dinge in Beziehung setzt, die für gesunde nichts miteinander zu tun haben."

"Ein Schizophrener "brennt aus" mit den Jahren. Das anfängliche Durcheinander aus Halluzinationen und Bedeutung weicht zunehmender Gleichgültigkeit. Die Erkrankten verlieren ihre früheren Interessen, und sie erleiden eine Verarmung an Initiative und Schwingungsfähigkeit. ... Derartige Verläufe sind allerdings vor allem aus der Vor-Neuroleptika-Ära bekannt."

"Ein Mangel an sicherer Bindung ("Containment"), Störungen der Entwicklung auf jeder Stufe be- oder verhindern die "Striatalisierung", die Verlagerung der belohnenden Dopamin-Ausschüttung vom Nucleus accumbens ins rückwärts gelegene Striatum. Wenn kein zuverlässig die Bedürfnisse stillendes Umfeld vorherrscht, entsteht für die Kinder keine "Routine". Alles bleibt unzuverlässig, jedes Ereignis kann sich in der unberechenbaren Welt als wichtig erweisen und muss einzeln und immer wieder neu bewertet werden."

"Die zur Behandlung [von Schizophrenie] eingesetzten Neuroleptika blockieren im Striatum die hemmend wirkenden Dopamin-D2-Rezeptoren. Hierdurch erlangen die aktivierend wirkenden Dopamin-D1-Rezeptoren gegenüber den D2-Rezeptoren das Übergewicht. Auf diese Weise gleichen Neuroleptika die ursächliche Störung der "Striatalisierung" zumindest teilweise aus: Im Striatum freigesetztes Dopamin kann die dortigen Strukturen wieder erregen; das zum Leben notwendige Gefühl von Vertrautheit und Routine kehrt zurück."

"Abschließend möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass es sich bei diesem Exkurs ... nicht um gesichertes Wissen handelt, sondern lediglich um theoretische Schlussfolgerungen, die sich aus dem um das Phänomen der "Striatalisierung" erweiterten Habituationsmodell ergeben."

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Ingo Schymanski:

"Wenn wir in der prägenden Phase eine Erfahrung nicht in ausreichender Menge oder Qualität gemacht werden kann, verharrt die Dopamin-Stimulation am Nucleus accumbens, dem Belohnungszentrum. Erst die Erfahrung einer zuverlässigen Verfügbarkeit einer Ressource beendet die extreme Lustbesetzung beispielsweise der Nahrungsaufnahme. Das neuropsychologische Korrelat besteht in einer Verlagerung der Dopamin-Stimulation weg vom Belohnungszentrum in dorsal gelegene Teile des Striatums ("Striatalisierung"), die weniger Lustempfinden vermittelt als die vorherige Stimulation des Nucleus accumbens. Weil die Lustbesetzung der zu machenden Erfahrung durch die Striatalisierung nachlässt, kann sich der kleine Mensch voll auf die Bearbeitung der nächst anstehenden Aufgabe konzentrieren, die ihm abermals Lusterleben vermittelt - bis auch sie zur "Routine" geworden ist und nicht länger als überhöhtes, lustbesetzes Ziel verfolgt werden muss."

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G. Roth, N. Stüber:

"[Indem wir damit beginnen, ein Klavierstück einzuüben, verlagert sich die Ausführungssequenz] von der bewussten assoziativen Großhirnrinde in bestimmte Teile des Striatums sowie des Kleinhirns. Dieses Prinzip bewirkt natürlich eine ungeheure Komplexitätsreduktion, wie wir erleben, wen wir einen anfangs sehr komplizierten motorischen Ablauf immer beherrschen, ohne planen und willentlich kontrollieren zu müssen, was wir gerade tun."

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