William Stern, Ideen zu einer differentiellen Psychologie, 1900:
"Das Wort Tempo ist in erster Linie ein musikalischer Ausdruck; es bezeichnet das adäquate Zeitmaß einer Tonfolge. Jede Melodie hat ihr Tempo, d. h.: es giebt eine Geschwindigkeit ihres Ablaufes, welche in ganz anderer Weise als irgend eine sonstige Geschwindigkeit geeignet ist, ihren inneren Gehalt zur ästhetischen Anschauung zu bringen. Hieraus ergiebt sich schon, dass das Tempo nicht nur ein objektives Melodie-, sondern stets auch ein subjektives Auffassungs-Tempo ist. Verallgemeinem wir diesen letzten Gesichtspunkt, so kommen wir zu einer psychologischen Erscheinung, die in der Wissenschaft noch merkwürdig wenig Berücksichtigung gefunden hat. Für jeden in der Zeit abrollenden seelischen Vorgang giebt es eine bestimmte Geschwindigkeit des Verlaufs, die das Subjekt einerseits gegenüber allen anderen Geschwindigkeiten als adäquat, natürlich, sympathisch empfindet, andererseits, falls es nach eigenem Ermessen den psychischen Prozess vollziehen kann, ganz von selbst, gleichsam instinktiv, zur Anwendung bringt. Bei Wahrnehmungen (Anhören einer Melodie oder einer Rede) vermag jeder Hörer sofort zu beurteilen, ob ihm das Tempo des Gehöreindrucks zusagt; bei Willensakten, die sich motorisch äussern, wie: Sprechen, Gehen, Spielen eines Musikstücks u. s. w., wählen wir aus eigenem Antrieb eine uns natürliche Geschwindigkeit; und auch das Denken hat sein Tempo.
Doch mit dieser Formulierung ist die psychologische Bedeutung des Tempos noch nicht erschöpft. Es haftet nämlich nicht an dem einzelnen sich zeitlich abspielenden Seeleninhalte (dem Melodieeindruck, den Sprachvorstellungen u. s. w.), sondern an dem Individuum als Ganzem. Das Tempo ist die natürliche Ablaufsgeschwindigkeit des psychischen Lebens überhaupt und bildet somit eines der wesentlichsten Charakteristika der Individualität. Vergleicht man den neapolitanischen mit dem friesischen Fischer, so wird man finden, dass die Gegensätze in der Schnelligkeit des Sprechens, in der
Vorliebe für flotte oder getragene Melodik, in dem Tempo des
Gehens, Tanzens oder anderer Bewegungen, in dem Fluge oder
der Schwerfälligkeit des Vorstellungsfortschrittes auf einen Grundgegensatz zurückzufuhren seien, der die zeitliche Struktur des
ganzen Seelenlebens überhaupt betrifft. Und was wir hier im
Groben an den verschiedenen Rassen exemplifizierten, das bestätigt
sich im kleinen und feinen bei der Vergleichung beliebiger Individuen. Welche Mannichfaltigkeit der seelischen Tempi verraten
die Sprech- und Bewegungsgeschwindigkeiten, die man in einer
Gesellschaft, in einer Schulklasse beobachten kann! Die Typik
der „Temperamente" beruht wenigstens zu einem Teil auf dem
verschiedenen Tempo der geistigen Funktionen; und wie bei den
typischen Bildern der Nationalitäten, so spielt auch bei denen
der Altersstufen und Geschlechter das Tempo eine wesentliche Rolle.
Für die Individualitätsforschung scheint nach alledem die
Bestimmung des psychischen Tempos eine wichtige Aufgabe darzustellen. Werden wir uns mit qualitativer Kennzeichnung begnügen müssen oder ist eine quantitative Messung denkbar? Ich
will versuchen, für letztere ein Verfahren vorzuschlagen. Die
messende Psychologie darf sich nicht allein auf Festlegung von
Maximal- oder Minimalwerten beschränken, sondern muss auch
auf Optimalwerte bedacht sein. Nicht nur die höchste Geschwindigkeit, mit der ein Mensch eine gewisse Bewegung zu
produzieren vermag, sondern auch die ihm natürliche und
adäquate Geschwindigkeit bei Vollzug der Bewegung, d. h.
sein „psychisches Tempo" ist einer Bestimmung zugänglich. Es gilt
also, eine Bewegung zu suchen, für welche 1. jeder Mensch ein
Vorzugstempo finden kann, bei welcher 2. die Ausführungsgeschwindigkeit lediglich vom psychischen Tempo der Personen,
nicht von anderen Momenten abhängt, und die 3. so einfach ist,
dass sie sich als Vergleichungsmaßstab bei Menschen verschiedenster Art, Lebenssphäre, Nationalität u. s. w. anwenden
lässt. ..."
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