"Gestatten Sie mir, an dieser Stelle etwas über »Amateure« oder »Dilettanten« zu schreiben. Das Wort Amateur leitet sich vom lateinischen amare, »lieben«, ab, Dilettant vom italienischen dilettarsi, »sich an etwas ergötzen«. In der Wissenschaft ist es heute Mode geworden, zu experimentieren, statt zu beobachten, zu quantifizieren, statt zu beschreiben.
Die beschreibende Wissenschaft, die auf einfachen, unvoreingenommenen Beobachtungen beruht, ist jedoch die Grundlage allen menschlichen Wissens.
Ich behaupte nun, daß selbst eine Person mit der übermenschlichen Geduld eines Yogi nicht lange genug beobachten könnte, um die Gesetze zu entdecken, die den Verhaltensweisen der Tiere zugrunde liegen. Nur ein Mensch, der mit dem unerklärlichen Genuß eines Amateurs und der Verliebtheit eines Dilettanten auf das Objekt seiner Leidenschaft zu starren vermag, ist fähig zu entdecken, daß zum Beispiel der »Grunzpfiff« bei vielen Arten der Gattung Anas sehr ähnlich abläuft, aber in der Knäckenten-Löffelenten-Gruppe» etwas anders, oder daß das Paarungsvorspiel von Schwänen und Gänsen sehr ähnlich ist.
Die Homologie von Verhaltensmustern kann wirklich nur von einem Dilettanten entdeckt werden. Dies gilt aber auch für viele andere wichtige Erkenntnisse der Verhal-tensforschung. Karl von Frisch, einer der hervorragendsten Biologen seiner Zeit, machte die aufregendsten Entdeckungen bei Bienen nicht in seinem Institut in München, sondern zu Hause im alten Gehöft in Brunnwinkel am Wolfgangsee, das seit Generationen im Besitz der Familie war. Ich behaupte, daß dieser großartige Experimentator die Bienensprache niemals entdeckt hätte, wäre er nicht ein Bienenliebhaber gewesen.
Wir alle, Amateure und Dilettanten, können eine ganze Reihe großer Wissenschaftler zu unseren Mitgliedern zählen, und das gilt besonders für die Liebhaber von Wassergeflügel.
Nicht daß ein Liebhaber deswegen gleich ein Wissenschaftler sein müsste! Wenn aber jemand ein echter Amateur, ein echter Liebhaber irgendeiner Art von Fischen, Vögeln oder Säugetieren ist, dann kann er nicht umhin, ein Experte zu werden. Und nochmals: Der Experte braucht kein Wissenschaftler zu sein, aber der Wissenschaftler ist ohne Zweifel dazu verpflichtet, ein Experte zu werden. Wenn ein Experte zum Wissenschaftler wird, dann spielt sich das oft ungefähr so ab: Der Experte, der noch gar nicht auf die Idee käme, sich für einen Wissenschaftler zu halten, liest und hört, was berühmte Wissenschaftler geschrieben und gesagt haben über das, worin er, der Experte, sich sehr gut auskennt. Dann merkt er zu seiner großen Überraschung, daß die berühmten Männer keine Vorstellung von dem haben, wovon sie reden, und daher völlig unsinnige Meinungen vertreten.
Mir kam diese Erkenntnis, als ich auf Verlangen meines Lehrers Karl Bühler die Werke der berühmten Vitalisten und Zweckpsychologen wie auch die der ebenso berühmten Behavioristen studierte. Kein einziger von ihnen kannte die Erscheinungen, die ich zu verstehen versuchte. Das besonders Ermutigende für den Experten der Verhaltensforschung ist, daß die gleiche Erfahrung zu einem hohen Grad der Übereinstimmung in grundsätz-lichen Dingen führt. ...
... Wir beide, Bernhard Hellmann und ich, haben uns während der letzten Jahre im Gymnasium (1920 bis 1922) besonders mit einer eigenartigen Gruppe von Kleinkreb-sen beschäftigt: den Blattfußkrebsen. Unser Interesse entwickelte sich aus der Routine, Lebendfutter für unsere Aquarienfische zu fangen. Ein älterer Freund, dem ich zu ewigem Dank verpflichtet bin, hatte mir ein kleines Mikroskop geschenkt, und aus reiner Neugier sah ich mir nun das Ergebnis meiner Beutezüge in den Donautümpeln an, bevor ich die Tierchen an meine Fische verfütterte. Als ich die Vielfalt von Formen sah, erfaßte mich die Sammlerleidenschaft . . . ."
Konrad Lorenz
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"Dilettanten und/oder Amateure sind, wie Konrad Lorenz, einer der Begründer der modernen (vergleichenden) Verhaltensforschung, wiederholt bemerkte, von Freude und Begeisterung an den Objekten ihrer Forschung beseelt und finden gerade dadurch Zugänge zu diesen Objekten, die manchen Spezialisten versperrt bleiben."
Franz Wuketits
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"Die Vergleichbarkeit, die Homologisierbarkeit von Bewegungsweisen bei
verschiedenen Tierformen konnte grundsätzlich nur einem Manne auffallen, der Tiere engeren
und weiteren Verwandtschaftsgrades dauernd vor sich hatte und ihrer Beobachtung mit jener Hingabe oblag, deren nur jene fähig sind, die nicht nur durch
rationalen Forschungswillen, sondern auch durch ein tiefes urgründiges Behagen, durch reine
Freude am Objekt an den Gegenstand ihrer Forschung gefesselt sind. Welch völlige
Verkennung einer naturverbundenen biologischen Forschung ist es doch, die »Liebhaberei«
für eine bestimmte Tiergruppe als etwas der wissenschaftlichen Betrachtung Fremdes, ja mit
ihr Unvereinbares hinzustellen!"
Konrad Lorenz (Nachruf auf Oskar Heinroth)
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"Eine geradezu gewaltige, mit voraussetzungsloser Beobachtung verbrachte
Zeit ist vonnöten, um das Datenmaterial zu sammeln und zu speichern, das der
große Verrechnungsapparat benötigt, um die Gestalt vom Hintergrund abheben
zu können. Selbst ein in Geduldsübungen geschulter tibetanischer Heiliger
wäre nicht imstande, ohne Nachlassen seiner Aufmerksamkeit vor einem
Aquarium oder Ententeich, oder aber in einem zur Freilandbeobachtung errichteten
Versteck so lange sitzen zu bleiben, wie nötig ist, um die Datenbasis
für den Wahrnehmungsapparat zu schaffen. Diese Dauerleistung bringen nur
jene Menschen zustande, deren Blick durch eine völlig irrationale Freude an
der Schönheit des Objektes an dieses gefesselt bleibt. Hier tritt das große wissenschaftliche
Verdienst der sogenannten Liebhaberei zutage: Die großen Pioniere
der Ethologie, Charles Otis Whitman und Oskar Heinroth waren "Liebhaber"
ihres Objektes und es ist durchaus kein Zufall, daß so wesentliche Entdeckungen
der Ethologie gerade an der Klasse der Vögel gemacht wurden. Es
ist einer der größten Denkfehler, in dem Ausdruck scientia amabilis ein absprechendes
Urteil über den betreffenden Wissenszweig zu sehen. "
Konrad Lorenz
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"Das triebhafte Verlangen, das im Jagen, Fangen, Beobachten, Bewundern schöner Tiere seine
Befriedigung sucht, kann, wie Du auf der ersten Seite Deines Buches richtig bemerkst, zu
einer wahren Besessenheit führen. Diese Besessenheit ihrerseits führt nun zum Besitzen-Wollen,
und das Besitzen des Schönen kann die primitivsten wie die sublimsten Formen
annehmen, von der naiven Freude des kleinen Kindes, das bunte Muscheln oder Federn
„haben” will, bis zum abstrakten Erfassen eines Naturgesetzes. Ob es unter den großen
Physikern oder Chemikern reine Geister gibt, die in ihrer Forschung der ästhetischen Freude an der Schönheit des Naturgeschehens entraten können, weiß ich
nicht. Unter den großen Biologen aber habe ich noch keinen gefunden, des Forschung nicht
aus der völlig naiven Freude am Anschauen organischer Schönheit entsprossen ist. Nur ist es
merkwürdiger- und eigentlich höchst lächerlicherweise nicht ganz „salonfähig”, dies in
Kreisen „exakter” Naturforscher einzugestehen. Daß die Ornithologie eine Scientia
amabilis im wahrsten Sinne des Wortes ist, wird ihr mancherseits so angekreidet, als
würde jeglicher Forscher durch unverhohlene Liebe zum Gegenstand seiner Forschung
unwiderruflich zum unernsten „Amateur” und Dilettanten gestempelt.
Wie falsch diese vertrocknete Anschauung tatsächlich ist, kann man schon bei einem Klassiker der Wissenschaftslehre, bei Wilhelm Windelband nachlesen: Alle Naturwissenschaft beginnt mit dem idiographischen Stadium, das schlicht Vorgefundenes beschreibt. Bald aber häufen sich die aufgestapelten Bild-Beschreibungen und würden nutzlos und unübersehbar, wollte man sie nicht ordnen , wie es schon das naive, Konchylien oder Schmetterlinge sammelnde Kind früher oder später tut, und so folgt auf das idiographische das systematische Stadium der Naturforschung. Da aber der Drang nach der natürlichen Erklärung dem Menschen ebenso eingeboren ist wie die Freude am Schönen, und da alle Harmonie und Regelhaftigkeit generell unwahrscheinlich ist und daher der Erklärung tatsächlich bedarf, so schließt sich an das Auffinden der Ordnung die Frage nach der Gesetzlichkeit, die ihr innewohnt, und an das systematische schließt sich das nomot hetische Stadium der Forschung. Wer eine geradezu dramatische und bis in die kleinsten Einzelheiten gehende Schilderung davon lesen will, wie sich dieser Vorgang in Wirklichkeit abspielt, der schlage Deine „Entwicklung der Ornithologie” auf."
Konrad Lorenz (Erwin Stresemann zum 70. Geburtstag)