Montag, 29. Januar 2018

Wolfgang Wickler über Monogamie und geschlechtliche Fortpflanzung:

"Da umgekehrt durchaus nicht alle sich paarenden Tiere in Einehe leben, sind also auch Einehe und Paarung voneinander unabhängig. Beides kommt aber auch unabhängig von der Brutpflege vor. Brutpflege gibt es schon bei niederen Tieren, die anonym, ohne Partnerkontakt, Nachkommen zeugen: Mehrere Seesterne pflegen die Jungen am Körper der Mutter, die Lepasterias entwickeln sich wie bei vielen Muscheln am Mutterkörper. Die zu den Fahnenquallen der Tiefsee gehörige Stygiomedusa bringt zehn Zentimeter große lebende Junge zur Welt. Die einehigen Schmetterlingsfische dagegen kümmern sich nicht um die Eier oder um die daraus schlüpfenden Larven, und manche Vögel, die keine Brutpflege mehr betreiben, weil sie zu Brutparasiten geworden sind, leben dennoch in Einehe, so z.B. der afrikanische Glanzkuckuck Chrysococcyx caprius, der Girlitzweber Anomalospiza imberbis und wohl auch die Schwarzkopf-Ente (Heteronetta atricapilla).
Wozu ist dann die Monogamie in diesen Fällen gut? Sie hat denselben Effekt, den viele niedere Tiere dadurch errreichen, dass die Geschlechtspartner zusammenwachsen (z.B. unter den Saugwürmern das Doppeltier Diplozoon oder der Pärchenegel, Schistosomum, die Erreger der Bilharziose). Das kommt aber selbst unter Wirbeltieren vor, z.B. bei den Tiefsee-Anglerfischen (Ceratias). So brauchen die Geschlechtspartner einander nicht lange zu suchen. Jedes Suchen birgt die Gefahr eines Irrtums, und wenn verschiedenartige Tiere irrtümlich ihre Geschlechtszellen zueinanderbringen, dann entstehen Hybride, die steril oder anderweitig geschädigt sein können. Wichtiger aber ist, dass namentlich nahe verwandte Arten, die noch miteinander fruchtbare Nachkommen haben könnten, veschieden spezialisiert sind, und zwar in Hinblick auf ihre Nahrung, den Wohnraum und sonst einen Teil der Umwelt. Durch solche unterschiedliche Spezialisierung nutzen sie die bestehenden Lebensmöglichkeiten besser aus und verhindern gegenseitige Konkurrenz. Ganz vereinfacht gesagt: Eine Tierart, die Gras frisst, kann nur eine beschränkte Anzahl von Individuen auf einer bestimmten Weidefläche dulden; entsteht eine Nachbarart, die Blätter von Bäumen frisst, so können deren Individuen ruhig auch auf der Weide wohnen, denn sie machen den Grasfressern keine Konkurrenz. Wichtig ist dann aber, dass die Grasfresser die Blattfresser erkennen können, weil sie diese sonst wie überzählige Grasfresser vertreiben. Also müssen sich die Arten äußerlich unterscheiden. Diese Signale sind ferner nötig, wenn es um die geschlechtliche Fortpflanzung geht; denn wenn Hybride entstehen, geht die gewonnene Spezialisierung wieder verloren. Also müssen die Tiere den artgleichen Geschlechtspartner erkennen; dazu genügt, dass ein Geschlecht von Art zu Art verschieden ist und das andere Geschlecht nach diesen Unterschieden wählt. Bei vielen Tieren ist das Weibchen mit der Brutpflege beschäftigt, würde durch auffällige Farben also sich und die Jungen sehr gefährden. Deshalb sind in diesen Fällen Männchen auffällig, haben ein Prachtkleid, und zwar von Art zu Art verschieden; die Weibchen aber wählen. Am schönsten sichtbar ist das Phänomen an der Kontrastbetonung bei nah verwandten Tierarten, die aneinandergrenzende Regionen bewohnen; dort, wo sie nebeneinander vorkommen und eine Verwechslungsmöglichkeit besteht, weichen sie in den Erkennungssignalen, Gesängen und Farbmustern stärker voneinander ab als an den entgegengesetzten Enden der Verbreitungsgebiete, wo nur je eine Art vorkommt. Lebewesen, die nicht wählen und das Zusammenführen der Geschlechtzellen weitgehend dem Zufall überlassen, leiden an ständiger Hybridisierung, die alle Ansätze zu verschiedenen Spezialisierungen und damit zu neuen Artbildungen wieder zunichte macht. Typisch ist das für Pflanzen, die sich ihre Geschlechtspartner nicht suchen können; und obwohl das Pflanzenreich viel älter ist als das Tierreich, gibt es doch heute [um ein Vielfaches mehr] Tierarten [als] Pflanzenarten. Die oft sehr verschiedenen Prachtkleider dienen also dazu, Irrtümer bei der Wahl der Geschlechtspartner zu vermeiden. Je öfter ein Individuum zur Fortpflanzung kommt, desto öfter muss es wählen, und desto eher könnte es sich dabei einmal irren, zumal dann, wenn die Partner sich nur kurz begegnen, kopulieren und wieder auseinandergehen. Je länger sie zusammenbleiben, desto leichter können sie den anfänglichen Irrtum bemerken und korrigieren; wenn sie dauernd zusammenbleiben vermeiden sie eine neue Wahl und die damit verbundene Gefahr eines Irrtums. Vergleiche innerhalb bestimmter Tiergruppen haben gezeigt, dass tatächlich dauermonogame Tiere mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser gegen Fehlpaarungen geschützt sind als diejenigen ihrer Verwandten, die keinen festen Paare bilden, selbst wenn sie extrem auffällige und von Art zu Art verschiedene Prachtkleider entwickelt haben. Man kann das an tropischen Buntbarschen ebenso sehen wie an Paradiesvögeln und findet damit zugleich eine Erklärung dafür, dass die nicht-paarbildenden Arten stark unterschiedlich gefärbte Geschlechter und deutliche Prachtkleider haben, die monogamen Tiere aber in der Regel nicht: Die Monogamie ersetzt das Prachtkleid. Sie verhindert Fehlverpaarungen und damit die Verschwendung von Zeit und Keimzellen, bewahrt somit die Arteigentümlichkeiten. Und diese Bedeutung hat die Monogamie unabhängig davon, ob Elterntiere Brutpflege betreiben oder nicht. Monogamie ist also funktionell unabhängig von Brutpflege, kann aber auch im Dienste der Brutpflege gestellt werden. Das körperliche Zusammenwachsen der Geschlechtspartner könnte man >Körper-Ehe< nennen. In der echten Dauerehe bleiben die Individuen unabhängig voneinander beweglich, sie verwachsen sozusagen im Verhalten miteinander, und sie erkennen einander individuell. Eine Zwischenstufe zwischen beiden ist die >Ortsehe<; dabei binden sich die Partner an denselben Wohnplatz oder dasselbe Nest, nicht aber direkt aneinander. Die Blinde Höhlengrundel (Typhoglyphius californiensis) lebt ihr ganzes Leben lang paarweise in den Gängen, die ein Maulwurfskrebs im Meeresboden anlegt; jeder dieser Fische vertreibt alle gleichgeschlechtlichen Rivalen und duldet den andersgeschlechtlichen Partner, der sich denselben Wohnplatz erkoren hat. Man kann ohne weiteres das Männchen oder das Weibchen gegen ein anderes austauschen. Auch der Storch bevorzugt den Horst vor dem Partner: Storch und Störchin sind nicht miteinander, sondern jeder mit dem Nest >verheiratet<, sie sind ortstreu, aber nicht partnertreu."

Wolfgang Wickler - Sind wir Sünder?, 1969

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