"Das Beispiel der Tanzfliegen, ... ist vielleicht geeignet, uns [eine] wichtige Seite der Ritualisierung vor Auge zu führen, nämlich die neuentstehende Reaktion, mit welcher der Artgenosse, an den die symbolische Mitteilung addressiert ist, diese beantwortet. Die Weibchen jener Tanzfliegenarten, die nur mehr einen rein symbolischen Schleier oder Ballon überreicht bekommen, der des essbaren Inhalts ermangelt, reagieren offensichtlich auf dieses Idol genau so gut oder noch besser, als es ihre Ahnfrauen auf die durchaus materielle Gabe einer essbaren Beute taten. Es entsteht also nicht nur eine vorher nicht da gewesene Instinktbewegung mit bestimmter Mitteilungsfunktion bei dem einen Artgenossen, dem "Aktor", sondern auch ein angeborenes Verständnis für sie bei dem anderen, dem "Reaktor". Was uns bei oberflächlicher Beobachtung als "eine Zeremonie" erscheint, besteht häufig aus einer ganzen Anzahl einander gegenseitig auslösenden Verhaltenselemente.
Die neuentstandene Motorik der ritualisierenden Verhaltensweise trägt durchaus den Charakter einer selbstständigen Instinktbewegung, auch die auslösende Situation, die in solchen Fällen weitgehend durch das Antwortverhalten des Artgenossen bestimmt wird, nimmt alle Eigenschaften der trieb-stillenden Endsituation an, die um ihrer selbst willen angestrebt wird. Mit anderen Worten, die ursprünglich anderen objektiven und subjektiven Zwecken dienende Handlungskette wird zum Selbstzweck, sowie sie zum autonomen Ritus geworden ist.
Es wäre geradezu irreführend, wollte man etwa die ritualisierte Bewegungsweise des Hetzens einer Stockente oder gar einer Tauchente als den "Ausdruck" der Liebe oder der Zugehörigkeit des Weibchens zum angepaarten Gatten bezeichnen. Die verselbstständigte Instinktbewegung ist kein Nebenprodukt, kein "Epiphänomen" des Bandes, das die beiden Tiere zusammenhält, sondern sie ist selbst dieses Band. Die ständige Wiederholung derartiger, das Paar zusammenhaltender Zeremonien gibt ein Gutes Maß für die Stärke des autonomen Triebes, der sie in Gang setzt. Verliert ein Vogel seinen Gatten, so verliert er auch das Objekt, an dem er seinen Trieb abreagieren kann[.]"
Konrad Lorenz (1963)
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Analog hierzu könnte man vielleicht die Riten mancher Ehepartner nicht bloß als "Ausdruck ehelicher Verbundenheit", sondern als "das Verbindende selbst" ansehen.