Freitag, 6. Januar 2017

Gefühle und Verhaltensflexibilität:

"Wenn man fragt, warum irgendein organismisches Merkmal entstanden ist, muss man fragen: Was hat es den Besitzern genützt? Worin bestand der Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil, den es ihnen verschafft hat? Denn nur, wenn es Vorteile verschaffte, konnte es sich durchsetzen und erhalten.
Im Vorteil ist zum Beispiel jenes Tier, das Gefahren besser meidet. Die Natur kann das Problem lösen, indem ihm evolutionär einprogrammiert wird, welche Reize es mit welchen Reaktionen beantworten muss. Ein so konstruiertes Tier hat etwas Automatenhaftes: Auf bestimmte Reize hin vollzieht es starre Handlungsfolgen. Überlegen ist ihm ein Tier, dass flexibler und dennoch zweckmäßig reagieren kann, weniger automatenhaft. Gefühlserlebnisse sind genau das: ein evolutionärer Schritt zur größeren Flexibilität des Verhaltens. Indem das Tier Gefahren nicht automatisch mit starren Handlungsmustern beantwortet, sondern sie fühlt, sie als Gefühl erlebt, als Furcht empfindet, fasst es eine große Zahl gefahrvoller Situationen zusammen: Es bildet sich eine Art emotionaler Begriff, lange vor jedem gedanklichen oder gar sprachlichen Begriff. >Angst<, die verspürte Angst, ist der emotionale Begriff für Gefahr; >Scham< ist der emotionale Begriff für den Verstoß gegen die bejahten Erwartungen des Mitmenschen, die verinnerlichten Normen; >Dankbarkeit< ist der emotionale Begriff für ein Verpflichtetsein. Um sich der Gefahr zu entziehen, kann das Tier, das >Angst< aufbringt, alle seine Mittel einsetzen und der jeweiligen Situation so gut es geht anpassen. Gefühle gestatten eine verstärkte Improvisation von Verhalten.
Der Vorteil der Gefühle und somit der Grund für ihre Entstehung - mit einem Wort: ihr Sinn - bestand also darin, dass sie die starre Verknüpfung von Reiz und Reaktion zu lockern erlaubten: Gefühle sind vorgedankliche Beurteilungen von Situationen (und Gedanken wie Sprache sind später vorwiegend damit beschäftigt, das Urteil der Gefühle zu wiederholen). Enthalten in diesem Urteil sind die gesamten Lebenserfahrungen der Vorfahren. Das Gefühlsurteil überlässt es dem Lebewesen, die Situation seinen Möglichkeiten entsprechend zu bewältigen. Gefühle sind erlebte, auf eine höhere, beweglichere, flexiblere Stufe gerückte Instinkte."

Die Vernunft der Gefühle
Dieter E. Zimmer (1984)

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