"Wie jedermann aus der Selbstbeobachtung weiß, schwankt die Stimmung des Menschen zwischen Fröhlichkeit und Gedrücktheit, zwischen heiteren und depressiven Zuständen. Eine Form dieser Schwankungen erstreckt sich über längere Zeiträume; besonders bei schöpferisch tätigen Leuten wechseln Perioden von Hochstimmung und Aktivität mit solchen der Missstimmung und Tatenlosigkeit. Die pathologische Überhöhung dieses Stimmungswechsels ist das sogenannte manisch-depressive Irresein, bei dem sowohl die Periode wie die Amplitude der Stimmung stark vergrößert ist.
Es bestehen alle nur denkbaren Übergänge zwischen >Normalen< und dem >pathologischen< Schwanken zwischen >hyperthymen< und >hypothymen< Zuständen oder, wie die Psychiater früher sagten, zwischen >Manie< und >Melancholie<. Auch die Dauer der einzelnen Zustände wechselt. Es gibt Leute mit fast dauernd etwas hyperthymer Stimmungslage, die allseits um ihre Heiterkeit beneidet werden, weil nur wenige wissen, dass sie diese mit kurzen, aber tiefen Depressionen bezahlen müssen. Umgekehrt gibt es Menschen, die allgemein leicht >melancholischer< Stimmung sind, aber um diesen Preis Zeiten extremer Aktivität und Schaffenskraft erkaufen. Ich gebrauche nicht ohne Absicht die Worte >bezahlen< und >erkaufen<, da ich überzeugt bin, dass tatsächlich ein physiologischer Zusammenhang zwischen den in Rede stehenden Ausschlägen des Stimmungswechsels steht.
>Normal< und offensichtlich arterhaltend sinnvoll ist der tageszeitliche Stimmungswechsel, dem nahezu alle gesunden Menschen unterliegen. Viele Leute werden die Erlebnisse, die ich nun phänomenologisch zu schildern versuche, an sich selbst beobachtet haben. Wenn ich, was ich regelmäßig zu tun pflege, in den ersten Morgenstunden für einige Zeit wach werde, fällt mir alles Unangenehme ein, dem ich zur Zeit ausgesetzt bin. Ich erinnere mich plötzlich eines wichtigen Briefes, den ich längst hätte schreiben müssen, mir fällt ein, dass der oder jener sich gegen mich in einer Weise benommen hat, die ich mir nicht hätte gefallen lassen sollen, ich entdecke Fehler in dem, was ich am Vortage geschrieben habe, und vor allem kommen mir Gefahren aller Art zu Bewusstsein, denen ich sofort vorbeugen zu sollen glaube. Diese Empfindungen stürmen oft so stark auf mich ein, dass ich zu Bleistift und Papier greife, um erinnerte Pflichten und neu entdeckte Gefahren ja nicht zu vergessen. Dann schlafe ich einigermaßen beruhigt wieder ein, und wenn ich zur Zeit des Aufstehens wieder erwache, sieht alles Peinliche und Bedrohliche weit weniger düster aus, außerdem fallen mir nun wirksame Gegenmaßnahmen ein, die ich alsbald ergreife.
Sehr wahrscheinlich beruht diese Stimmungsschwankung, der die meisten von uns unterworfen sind, auf einem Regelkreis, in den ein verzögerndes und damit Schwingungen verursachendes Trägheitelement eingebaut ist. Wie jeder von uns weiß, führt das plötzliche Verschwinden deprimierender Faktoren zum Überquellen fröhlicher Stimmung, wie auch der umgekehrte Vorgang allgemein bekannt ist. In der innerlich verursachten Schwingung zwischen hypothymen und hyperthymen Zuständen möchte ich einen arterhaltend wichtigen Vorgang des Suchens sehen, der einerseits nach Gefahren fahndet, die unsere Existenz bedrohen, andrerseits nach Möglichkeiten, die wir zu unserem Vorteil ausnutzen können.
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Das reziproke Schwingen der Schwellenwerte aller Reizkombinationen, die wechselweise hyperthyme und hypothyme Stimmungen auslösen, erfüllt die Aufgabe eines >Absuchapparates<, eines >scanning mechanism<, wie englisch sprechende Kybernetiker sagen. Er hält abwechselnd Wache gegen neu auftretende Gefahren und Ausschau nach neu sich bietenden guten Gelegenheiten und erfüllt damit eine eindeutig kognitive Leistung."
Die Rückseite des Spiegels
Konrad Lorenz (1973)
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