Abbildung 1 versucht, den Kerngehalt [von] acht Feststellungen, sofern dies
möglich ist, in einem Schema zu veranschaulichen. Die Abszisse ist dabei als eine
Rangskala zunehmender „Distanz" zum Ego aufzufassen, die Ordinate als Rangskala
zunehmender Eignung als Geschlechts- bzw. Ehepartner.
Der Begriff der „Distanz" läßt sich dabei auf verschiedene Weise interpretieren.
Die wichtigsten Interpretationen sind die folgenden (vgl. MURDOCK 1949,
p. 314 ff.): (1) Verwandtschaftliche Distanz. Am Anfang dieser Skala stehen die
Verwandten ersten Grades, also die Mitglieder der Kernfamilie. Es folgen dann
etwa Verschwägerte und Verwandte zweiten und dritten Grades, sodann die Mitglieder
einer „Lineage", also solche Personen, deren Verwandtschaft zum Ego
gerade noch bestimmt werden kann, und schließlich alle solche Personen, mit
denen sich das Ego zwar noch (mehr oder minder mystisch) verwandt fühlt, ohne
dies realiter belegen zu können — sogenannte Sippen oder Clans. Noch weiter
rechts folgen dann alle nicht als verwandt empfundenen Personen. — (2) Kulturelle
Distanz. Nach dieser Skalierung stehen links Mitglieder des eigenen Stammes
oder der eigenen Nation, von denen man sich auch in kultureller Hinsicht
nicht unterscheidet. Es folgen sodann — zunächst innerhalb der eigenen Sozietät
— andersartige Subkulturen (z.B. soziale Klassen) und Kulturen (z.B. Kasten),
schließlich die Mitglieder fremder Nation und Kultur. — (3) Geographische
Distanz. Man kann den Ausdruck „Distanz" auch ganz wörtlich interpretieren. Die Skala beginnt dann bei Mitgliedern des eigenen Gemeinwesens, „Nachbarn"
im engeren oder weiteren Sinne, und erstreckt sich nach rechts hin im Sinne immer
weitergehender geographischer (und damit auch kommunikativer) Entferntheit. (4) Physiognomische Distanz. Auf dieser bei MURDOCK (1949) nicht eigens angeführten,
sondern in die übrigen Skalen eingeflochtenen Rangreihe wären auf linker Seite phänotypisch dem Ego mehr oder minder ähnliche Partner anzuordnen;
es folgen sodann Vertreter verwandter und fremder Rassen, bis man schließlich
an die Artgrenze stößt, jenseits derer das nichtmenschliche Leben beginnt.
Der strichpunktierte Gradient in Abbildung 1 läßt sich als ein monoton abfallendes,
positiv getöntes „Wir-Gefühl" interpretieren, dessen Ausprägung zugleich
ein Maß für die Präferenz ist, ein an der betreffenden Stelle lokalisiertes
Individuum als Ehe- bzw. Sexualpartner zu wählen.
Wäre dieser „Endogamie-Gradient" allein maßgeblich, so wäre allerdings extremer
Inzest mit den Mitgliedern der Kernfamilie die bevorzugte Eheform.
Tatsächlich gibt es nun aber noch einen zweiten Gradienten, der monoton über
denselben Rangskalen verläuft, aber nunmehr von links nach rechts ansteigend,
und den wir, wiederum in Anlehnung an MURDOCK (1949), als den „ExogamieGradienten"
bezeichnen.
Begreifen wir nun das Zusammenwirken der beiden durch die Gradienten symbolisierten
Kräfte formal als annähernd multiplikativ, so resultiert als Produkt
eine umgekehrt U-förmige Kurve, die angibt, welche Individuen mit welcher Präferenz als Geschlechts- bzw. Ehepartner in Betracht kommen. Den Abfall dieser
Kurve nach links hin bezeichnet man als das Endogamieverbot, wenn von Eheschließungen
die Rede ist, bzw. als das Inzestverbot, wenn primär an den geschlechtlichen
Umgang gedacht wird. Der Abfall auf der rechten Flanke wird
spätestens in Form des Sodomietabus sanktioniert, doch sind hier von Fall zu Fall
auch noch engere Grenzen gezogen, z. B. Klassen-, Kasten- oder Rassenschranken.
Wie Abbildung 1 schematisch andeutet, verteilen sich die vier „Distanz"-Skalen
in der Regel über unterschiedliche Abszissenbereiche. Während etwa die Skala
„Verwandtschaftliche Distanz" stets schon an der linken, aufsteigenden Flanke
der Präferenz-Kurve beginnt, während also stets ein besonders naher Verwandtschaftsgrad
existiert, mit dem eine geschlechtliche Verbindung verpönt ist, wird
etwa die Skala „kulturelle Distanz" meist erst an der Abszissen-Stelle direkt
unter dem Gipfel der Präferenz-Kurve beginnen, d.h. maximale kulturelle
„Nähe" wird in der Regel den bevorzugtesten Heiratspartner definieren. Auch
hier gibt es aber gelegentlich Ausnahmen wie z.B. die Statusgruppen-Exogamie
mancher Indianer, also die Verpflichtung des Vornehmen, seinen Partner aus niederem
Stande zu wählen (MURDOCK 1949, p. 366).
Auch für die „Physiognomische Distanz" wird man zunächst davon auszugehen
haben, daß die typischen Merkmale der eigenen Rasse am Gipfel der Präferenzkurve liegen. Unklar sind bislang allerdings die Verhältnisse bei Fortsetzung
dieser Skala nach links in den Bereich individueller physiognomischer Ähnlichkeit
mit dem Ego. Hierzu liegen unterschiedliche Befunde vor, wobei für einige
Merkmale (z.B. den Kretschmerschen Konstitutionstyp) eine gewisse Bevorzugung
kontrastierender Partner besteht. Bei der Mehrzahl der Merkmale jedoch scheint
eine Präferenz für Ähnlichkeit zu bestehen. Die Genetiker sprechen hier von
„Homogamie" oder „assortativer Paarung" (vgl. etwa LERNER 1968, p. 261;
KNUSSMANN 1965). Wir gehen darauf jedoch nicht näher ein, da jedenfalls eine
gesellschaftliche Regel in bezug auf das linke Ende der Physiognomie-Skala nirgends
zu bestehen scheint.
Um den mannigfaltigen Differenzierungen der Heiratsvorschriften in den verschiedenen
Kulturen Rechnung zu tragen, ist Abbildung 1 jeweils entsprechend
abzuwandeln; und zwar treten Modifikationen vor allem in viererlei Hinsicht
auf.
(1) Die meisten Variationsmöglichkeiten bestehen in bezug auf die inhaltliche
Interpretation der „Verwandtschafts"-Skala. Besonders im Bereich der mittleren
Verwandtschaftsgrade, also etwa bei Vettern, besteht bei den verschiedenen Kulturen
eine Fülle unterschiedlicher Auffassungen darüber, wer mit wem über wen
wie nahe verwandt sei; und die Heirats Vorschriften richten sich weitgehend
nach diesen Verwandtschaftsvorstellungen (vgl. für eine erste Orientierung hier
über SCHUSKY 1965).
(2) Die vier „Distanz"-Skalen der Abbildung 1 sind relativ zueinander verschiebbar
zu denken und haben darüber hinaus in verschiedenen Kulturen unterschiedliche
Ausdehnung. So mag etwa die „geographische Distanz" bei einer
Kultur völlig irrelevant sein, während in einer anderen die strikte Vorschrift
herrscht, außerhalb des eigenen Dorfes zu heiraten.
(3) Denkt man eine der Skalen, z.B. die Verwandtschaftsskala, fest mit der
Abszisse verbunden, so ergeben sich weitere Variationen in bezug auf die Lage des
Gipfels der Präferenzkurve: Dieser kann weit nach links verschoben sein, wie
bei einigen mohammedanischen Kulturen mit bevorzugter Cousinen-Heirat, oder
weit nach rechts, wie bei manchen nordamerikanischen Indianern, bei denen symbolische
Verwandtschaftsgruppen („Phratries") von vielen Hunderten von Mitgliedern
für die Heirat tabu sind.
(4) Schließlich kann die Präferenzkurve unterschiedlich flach verlaufen: Die
angedrohte Sanktion gegen Inzest bzw. Sodomie kann also je nach betrachteter
Kultur alle Abstufungen von Hinrichtung über Ächtung, Mißbilligung bis zu
mildem Spott durchlaufen.
Quelle:
Norbert Bischof (1970)