Donnerstag, 2. Februar 2012

Die Intelligenz:

Das Ganze aller Begabungen, aller Werkzeuge, die zu irgendwelchen Leistungen in Anpassung an die Lebensaufgaben brauchbar sind und zweckmäßig verwendet werden, nennen wir Intelligenz.
a) Analyse der Intelligenz. Wir unterscheiden die Vorbedingungen der Intelligenz, zweitens das geistige Inventar, die Kenntnisse, drittens die eigentliche Intelligenz. Zu den Vorbedingungen der Intelligenz gehören etwa Merkfähigkeit und Gedächtnis, Grad der Ermüdbarkeit, de Mechanismus der motorischen Erscheinungen und des Sprechapparats usw. Man hat diese Vorbedingungen oft mit der eigentlichen Intelligenz verwechselt. Wer kein Gedächtnis besitzt, nicht sprechen kann, immer in kürzester Frist ermüdet, kann allerdings seine Intelligenz nicht zeigen. Aber wir finden dann bei ihm als Ursache die Störung einer abgrenzbaren Funktion, als deren Folge der Ausfall der Intelligenzbetätigung auftritt, nicht eine Störung der Intelligenz selbst. Die Herauslösung solcher abgrenzbaren Funktionen wie auch der psychophysischen Grundfunktionen ist für die Analyse und Unterscheidung der Intelligenzanamolien von größtem Wert. ...
Mit der eigentlichen Intelligenz werden wir zweitens nicht den geistigen Besitzstand, die Kenntnisse verwechseln. Man kann wohl aus einem großen geistigen Besitzstand auf gewisse Fähigkeiten schließen, die beim Erwerb des nun rein gedächtnismäßig Reproduzierbaren nötig waren. Aber es besteht auch da eine weitgehende Unabhängigkeit zwischen eigentlicher Intelligenz (Urteilsfähigkeit) und bloßer Lernfähigkeit. Man kann ganze komplizierte Gedankengebilde lernen, und Lernbegabung wird oft mit Intelligenz verwechselt. In der Psychopathologie liefert der Vergleich des Kenntnisbesitzes mit den augenblicklich noch vorhandenen nur geringen Fähigkeiten manchmal Kennzeichen des erworbenen Defektes gegenüber dem angeborenen Schwachsinn, bei dem Kenntnisse und Fähigkeiten mehr in einem begreiflichen Verhältnis zueinander zu stehen pflegen. Sehr geringe Kenntnisse sind im allgemeinen zugleich ein Zeichen von Schwachsinn, große Kenntnisse an sich kein Zeichen für Intelligenz. Eine Prüfung des Besitzstandes wird also indirekt in extremen Fällen ein Urteil über den Schwachsinn erlauben. Viel wichtiger aber ist die Kenntnisprüfung, um zu erkunden, mit welchem Material an Inhalten ein Mensch arbeitet. Erst bei Kenntnis des Umfanges dieses Materials (des Weltbildes des einzelnen) kann man seine Handlungen, sein Verhalten, seine Lebensführung verstehen, kann man richtig auffassen, was er im Gespräch eigentlich meint. Je geringer der Umfang seines geistigen Besitzes ist, desto mehr können wir beobachten, dass die Bedeutung der Worte, die er gebraucht, für ihn andere sind als für uns. Die Worte, die er gebraucht, gehen ihrer objektiven Bedeutung nach über die von ihm wirklich gemeinte Bedeutung hinaus. Die Worte täuschen einen größeren Gedankenschatz vor, als der Kranke besitzt. Wie groß der geistige Besitzstand eines Menschen ist, hängt außer von der Lernbegabung ud seinen Interessen vorwieged von dem Milieu ab, aus dem er stammt, und in dem er lebt. Die Kenntnis des durchschnittlichen Niveaus im geistigen Besitzstand der verschiedenen sozialen Kreise ist daher ein wichtiger Maßstab, um ein Urteil über den einzelnen Menschen zu gewinnen. Man kann sich den durchschnittlichen Besitzstand meistens gar nicht gering genug vorstellen. ... Bei Kenntnisprüfungen pflegt man sowohl das Schulwissen wie das Lebenswissen zu berücksichtigen. Das letztere (Kenntnisse, die aus spontanem Interesse und im Beruf erworben werden) lässt viel eher einen Schluss auf die Intelligenz zu. Erstaunlich ist, dass aber nach den bisherigen Untersuchungen die Mehrzahl der Menschen selbst im eigenen Beruf nur ganz äußerlich Bescheid weiß.
Wir wenden uns drittens der eigentlichen Intelligenz zu. Diese ist außerordentlich schwer zu fassen. Wir vermögen uns kaum Rechenschaft zu geben, nach welchen und nach wieviel verschiedenen Gesichtspunkten wir jemanden intelligent nennen. Es gibt sicher eine große Menge ganz verschiedener Begabungen, deren einzelne sich vielleicht noch exakt herauslösen lassen, und es existiert nicht bloß eine Reihe größerer und geringerer Intelligenz, sondern ein verzweigter Baum sehr verschiedener Veranlagungen. Ob es eine allgemeine Intelligenz, eine allgemeine Leistungsfähigkeit, die sich in jeder Beziehung zeigen muss, einen "Zentralfaktor der Intelligenz" gibt, ist zweifelhaft. Aber man ist immer wieder geneigt ihn anzunehmen. [sic!] Es ist das, was die alten Psychologen Urteilskraft nannten.
Jedoch sind die Erscheinungen der Intelligenz sehr verschieden. Da gibt es den lebhaften, schnell auffassenden Menschen, der durch seine Gewandtheit besticht und für außerordentlich intelligent gehalten wird, jedoch bei näherer Prüfung sich als durchschnittlich und oberflächlich erweist. Da gibt es die praktische Intelligenz, die in jedem Augenblick schnell aus der Unsumme der Möglichkeiten das Richtige zu wählen weiß und sich an neue Aufgaben geschickt anpasst, und die theoretische Intelligenz, die im Augenblick geradezu schwachsinnig sich verhält, aber in einsamer ruhiger Arbeit eminente Denkleistungen sachgemäß, richtig und fruchtbar zu vollbringen vermag. ...
Bei der klinischen Untersuchung sind wir nicht über ein paar sehr allgemeine Seiten der Intelligenz hinausgekommen. Wir legen besonders Wert darauf, eine Anschauung von der Urteilsfähigkeit, Denkfähigkeit, den Sinn für das Wesentliche, die Fähigkeit zum Erfassen von Gesichtspunkten und Ideen zu bekommen, die ein Mensch hat. Wer auf eine schwierige Aufgabe erklärt, etwas nicht zu wissen oder nicht zu können, scheint uns intelligenter, als wer auf ein unwesentliches Detail eingeht, oder sich heraus- oder hineinredet. Ferner ist uns neben der Urteilsfähigkeit charakteristisch die Spontanität, die Initiative. Jemand kann auf Anforderungen hin sich als sehr urteilsfähig erweisen, sich selbst überlassen aber apathisch und stumpf herumsitzen.
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Karl Jaspers - Psychopathologie 1946