Samstag, 24. Februar 2018

Der Willensruck:

William Stern, Allgemeine Psychologie, 1935:

>Jede eigentliche Willenshandlung setzt ein mit einem besonderen Akt, dem Willensruck. Dieser ist, wie aIle personalen Letzttatsachen, nicht eigentlich zu beschreiben und zu erklären; wir können ihm nur durch gewisse Umschreibungen näher kommen.
Betrachten wir zunächst die voll ausgebildeten Willenshandlungen, die eine regelrechte Vorperiode haben. Dann ist für den Willensruck die Abhebung gegenüber der Vorperiode wesentlich. Mögen seine Voraussetzungen auch in den Motivationsabläufen der Vorperiode liegen, er wächst nicht in gleitender Bewegung aus ihnen hervor, sondern springt aus ihnen heraus mit besonderer Deutlichkeit, wenn sich die Vorperiode in langen Kämpfen, Erwägungen und Zweifeln hingeschleppt hatte. Diese hören plötzlich auf, etwas Neues tritt ein - und damit wird das Gefühl der Unrast und Unsicherheit ersetzt durch ein Gefühl der Endgültigkeit, welches - trotz aller miterlebten Aktivität - doch etwas Ruhevolles hat. Diese retrospektive (nämlich vorangegangenen Kampf abschliessende) Seite des Willensrucks nennen wir "Entscheidung". (Genauer wäre "Selbstentscheidung"; denn es gibt auch Entscheidungen ohne eigenes Zutun; so wenn bei einem, vor der Berufswahl stehenden Knaben die verschiedenen sich kreuzenden Neigungen und Wünsche durch ein Machtwort des Vaters zum Abschluss gebracht werden).
Darum gehört zum Willensruck das starke Erlebnis der Selbsttätigkeit: Ich bin es, der da will. Nirgends rafft sich die aktive Ganzheit der Persönlichkeit zu einem so undiskutierbaren Erleben zusammen, wie im Willensruck: "volo, ergo sum".
Das "Sich-selbst-Haben" im Willensruck beschränkt sich aber nicht nur auf die unmittelbare Gegenwart, sondern strahlt in die Zukunft hinaus: was nun kommt, ist mein Tun. Diese prospektive Seite des Willensrucks heisst "Entschluss". Es wird nicht nur das Vergangene abgeschlossen, sondern auch das Bevorstehende entriegelt, "ent-schlossen" - und zwar von mir und meiner Tat aus. In jedem Entschluss liegt eine Art Herrscherakt, ein Anspruch auf Eingriff in die Welt. Mag während der Vorperiode noch so sehr das passive Ausgeliefertsein an die Welt erlebt worden sein, mag selbst die Entscheidung noch durch äussere Einflüsse erzielt worden sein (vgl. unser obiges Beispiel vom "Machtwort des Vaters") - im Augenblick des Entschlusses ist die Belastetheit durch Fremdes umgewandelt in eigene Wirksamkeit. Das Gefühl der Ich-Souveränität mag meist nicht lange anhalten, weil sehr bald die Welt wieder ihre Übermacht zur Geltung bringt: aber im Erlebnis des "Entschlusses" ist es unbestritten da.
Entscheidung und Entschluss verleihen auch dem gegenständlichen Inhalt der Wollung (den Zielen und Wegen) eine ganz andere Färbung, als sie in der Vorperiode hatten. Das Motiv, für welches die Entscheidung fiel, hebt sich mit siegreicher Klarheit aus dem Gewirr der Motivkämpfe heraus; die Gegenmotive verlieren viel von ihrer lockenden oder schreckenden Kraft in dem Augenblick, in welchem sie nicht mehr als Möglichkeiten des Wollens in Betracht kommen. Hilfsmittel, die in den Vorerwägungen unbenutzbar, Wege, die ungangbar erschienen, gewinnen jetzt, da man sich zu ihnen entschlossen hat, ein anderes, positiveres Aussehen. (Dies ist der Sinn des Sprichworts: "Wo ein Wille ist, da ist ein Weg".)
Der Ausklang des Willensrucks endlich besteht darin, dass aus dem rein Psychischen (Entscheidung, Entschluss) ins Psychophysische übergegangen wird: dem Körper werden diejenigen Innervationen erteilt, welche die Handlung im Sinne des Entschlusses einleiten: "ImpuIs".<

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